Die kosmische Vision
(II,35,1)
Wieder einmal war der Diakon Servandus nach seiner Gewohnheit bei Benedikt zu Besuch. Servandus war auch Abt des Klosters, das in Kampanien von dem ehemaligen Patrizier Liberius erbaut worden war, und kam oft zum Kloster Benedikts; denn auch er war erfüllt von göttlicher Weisheit und Gnade. Sie sprachen dann über das Glück des ewigen Lebens und erbauten sich gegenseitig. Wenn sie auch in diesem Leben die köstliche Speise der himmlischen Heimat noch nicht in vollendeter Freude genießen konnten, so wollten sie doch wenigstens in ihrer Sehnsucht davon kosten.
(II,35,2)
Es wurde Zeit, zur Ruhe zu gehen. Der heilige Benedikt legte sich im oberen Teil des Turmes nieder, der Diakon Servandus im unteren. In diesem Turm führte eine gerade Stiege von unten nach oben. Vor dem Turm befand sich ein größeres Gebäude, wo ihre Schüler ruhten. Während die Brüder noch schliefen, stand der Mann Gottes Benedikt schon vor der Zeit des nächtlichen Gebetes auf und hielt Nachtwache. Er stand am Fenster und flehte zum allmächtigen Gott. Während er mitten in dunkler Nacht hinausschaute, sah er plötzlich ein Licht, das sich von oben her ergoss und alle Finsternis der Nacht vertrieb. Es wurde so hell, dass dieses Licht, das in der Finsternis aufstrahlte, die Helligkeit des Tages übertraf.
(II,35,3)
Etwas ganz Wunderbares ereignete sich in dieser Schau, wie er später selbst erzählte: Die ganze Welt wurde ihm vor Augen geführt, wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt.
Während der ehrwürdige Vater den Blick unverwandt auf den strahlenden Glanz dieses Lichtes gerichtet hielt, sah er, wie Engel die Seele des Bischofs Germanus von Capua in einer feurigen Kugel zum Himmel trugen.
(II,35,4)
Für dieses große Wunder wollte Benedikt einen Zeugen haben. Darum rief er den Diakon Servandus zwei- oder dreimal ganz laut beim Namen. Der erschrak über das laute Rufen, das er von diesem Mann nicht gewohnt war, stieg hinauf, schaute hin und sah nur noch einen Schimmer des Lichtes. Sprachlos stand er vor diesem Wunder; da erzählte ihm der Mann Gottes ganz genau, was geschehen war.
Sogleich ließ Benedikt dem gottgeweihten Mann Theoprobus im Ort Casinum ausrichten, er möge noch in der Nacht einen Boten in die Stadt Capua senden. Er solle in Erfahrung bringen, wie es um den Bischof Germanus stehe, und ihm Nachricht geben. So geschah es. Der Bote erfuhr, dass der hochwürdige Bischof Germanus schon gestorben war. Auf genauere Nachfrage fand er heraus, dass sein Heimgang im gleichen Augenblick erfolgt war, in dem der Mann Gottes seinen Aufstieg zum Himmel geschaut hatte.
Über die Erleuchtung
(II,35,5)
PETRUS: Wunderbar und ganz erstaunlich! Was du da gesagt hast, daß Benedikt die ganze Welt wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt vor Augen haben durfte, das habe ich noch nie erlebt und kann es mir auch nicht vorstellen. Wie könnte denn jemals ein Mensch die Welt als ganze schauen?
(II,35,6)
GREGOR: Halte fest, was ich sage, Petrus! Wenn die Seele ihren Schöpfer schaut, wird ihr die ganze Schöpfung zu eng. Hat sie auch nur ein wenig vom Licht des Schöpfers erblickt, wird ihr alles Geschaffene verschwindend klein. Denn im Licht innerer Schau öffnet sich der Grund des Herzens, weitet sich in Gott und wird so über das Weltall erhoben. Die Seele des Schauenden wird über sich selbst hinausgehoben. Wenn das Licht Gottes sie über sich selbst hinausreißt, wird sie in ihrem Inneren ganz weit; wenn sie von oben hinabschaut, kann sie ermessen, wie klein das ist, was ihr unten unermesslich schien.
Der Mann Gottes, der die Feuerkugel sah und die Engel, die zum Himmel zurückkehrten, konnte dies ganz gewiss nur im Licht Gottes erkennen. Ist es erstaunlich, dass er die ganze Welt vor sich sah, da er durch die Erleuchtung des Herzens über die Welt hinausgehoben war?
(II,35,7)
Wenn er aber, wie gesagt, die ganze Welt als eine Einheit vor sich sah, so wurden nicht Himmel und Erde eng, sondern die Seele des Schauenden weit; in Gott entrückt, konnte er ohne Schwierigkeit alles schauen, was geringer ist als Gott. In dem Licht, das seinen Augen aufleuchtete, erstrahlte in seinem Herzen ein inneres Licht. Weil dieses seinen Geist in den Himmel entrückte, zeigte es ihm, wie eng alles Irdische ist.
(II,35,8)
PETRUS: Es war wohl zu meinem Vorteil, dass ich nicht gleich verstand, was du damit sagen wolltest. Denn nur aus meiner Schwerfälligkeit erwuchs deine Erklärung. jetzt hast du es mir ganz deutlich nahegebracht. Erzähle bitte weiter!