Beginn in Effide
(II,1,1)
Er gab also das Studium der Wissenschaften auf und war entschlossen, in die Einsamkeit zu gehen. Nur seine Amme, die ihn sehr liebte, folgte ihm. Sie kamen nach Effide und blieben bei der Kirche des heiligen Petrus. Dort führten viele angesehene Männer ein Leben in Gemeinschaft.
Die Amme erbat sich nun von Nachbarinnen ein Sieb, um Weizen zu reinigen, und ließ es unbekümmert auf dem Tisch liegen. Es fiel hinunter und zerbrach in zwei Stücke. Als die Amme zurückkam, bemerkte sie sofort, was geschehen war. Da begann sie heftig zu weinen, weil das Gerät, das sie ausgeliehen hatte, zerbrochen war.
(II,1,2)
Als der junge Benedikt seine Amme weinen sah, hatte er Mitleid wegen ihres Kummers. Er nahm die beiden Teile des zerbrochenen Siebes und begann unter Tränen zu beten; denn er war fromm und liebevoll. Als er vom Gebet aufstand, fand er das Sieb neben sich unversehrt; es zeigte keine Spuren eines Bruches. Sogleich tröstete er die Amme mit freundlichen Worten und gab ihr das Sieb, das er zerbrochen an sich genommen hatte, unversehrt zurück.
Dieses Ereignis wurde dort allen bekannt und erregte solche Verwunderung, dass die Einwohner des Ortes das Sieb beim Eingang der Kirche aufhängten. jetzt und später sollten alle erfahren, wie vollkommen der junge Benedikt in der Kraft der Gnade sein Mönchsleben begann. Viele Jahre war das Sieb dort vor aller Augen und hing noch bis zur Zeit der Langobarden über der Kirchentür.
Aufbruch nach Subiaco
(II,1,3)
Benedikt aber wollte lieber die Drangsale der Welt erfahren als ihr Lob, sich lieber in harter Arbeit für Gott abmühen, als durch Gunst und Erfolg im Leben berühmt werden. Deshalb verließ er heimlich seine Amme und zog sich an einen einsamen Ort zurück, der Sublacus heißt, ungefähr vierzig Meilen von Rom entfernt. Dort entspringt eine starke Quelle mit frischem, klarem Wasser. Es sammelt sich in einem weiten See und wird dann zu einem Fluss.
Die Hilfe des Romanus
(II,1,4)
Auf der Flucht dorthin traf ihn unterwegs ein Mönch namens Romanus und fragte ihn, wohin er wolle. Als dieser den Wunsch Benedikts erfuhr, leistete er ihm Hilfe, ohne mit jemand anderem darüber zu sprechen. Er gab ihm das Gewand gottgeweihten Lebens und stand ihm bei, soweit er konnte.
An dem genannten Ort angekommen, zog sich der Mann Gottes in eine ganz enge Höhle zurück und blieb dort drei Jahre. Kein Mensch außer dem Mönch Romanus wusste etwas da von.
(II,1,5)
Romanus lebte nicht weit entfernt in einem Kloster unter der Regel des Abtes Adeodatus. In guter Absicht verschwand er ohne Wissen seines Abtes an bestimmten Tagen für einige Stunden und brachte Benedikt das Brot, das er sich vom Munde absparen konnte.
Vom Kloster des Romanus führte aber kein Weg zur Höhle Benedikts, weil der Fels oberhalb der Höhle steil aufragte. Romanus ließ daher das Brot immer von diesem Felsen an einem langen Seil hinab; an dem Strick befestigte er auch eine kleine Glocke, damit der Mann Gottes an ihrem Klang erkennen konnte, dass ihm Romanus das Brot brachte. Dann kam er heraus, um es anzunehmen. Doch der Alte Feind blickte mit Neid auf die Liebe des einen und auf die Stärkung des andern. Als er eines Tages sah, wie das Brot herabgelassen wurde, warf er einen Stein und zerschlug die Glocke.
Romanus ließ sich aber nicht davon abbringen, nach Kräften zu helfen.
Der Osterbote
Miniatur aus dem Codex Vaticanus Latinus 1202 (um 1070). Sie stellt die Osterbegegnung Benedikts mit dem Priester dar. Die Bildunterschrift lautet: "Sume. deus iussit. ede nunc, quia pascha refulsit. - Nimm. Gott hat es so geheißen. Iss jetzt, denn das Osterfest ist aufgeleuchtet."
(II,1,6)
Da wollte der allmächtige Gott Romanus von seiner Mühe ausruhen lassen und das Leben Benedikts den Menschen als Bei spiel vor Augen führen. Wie ein Licht sollte er auf den Leuchter gestellt werden, hell brennen und allen im Haus leuchten [vgl. Mt 5,15.16].
Darum offenbarte sich der Herr einem Priester, der weit entfernt wohnte und sich am Osterfest ein Mahl zubereitete. Er sagte zu ihm: »Du bereitest dir hier Köstlichkeiten, und mein Diener wird dort vom Hunger gequält.«
Sofort stand der Priester auf und machte sich noch am Osterfest mit den Speisen, die er für sich zubereitet hatte, auf den Weg. Er suchte den Mann Gottes in den steilen Felsen, in den Talgründen und in den Schluchten. Schließlich fand er ihn in der Höhle verborgen.
(II,1,7)
Sie beteten miteinander, priesen den allmächtigen Herrn und setzten sich nieder. Nach beglückendem Gespräch über das wahre Leben sagte der Priester, der gekommen war: »Auf! Wir wollen Mahl halten, denn heute ist Ostern.« Der Mann Gottes gab zur Antwort: »Gewiss! Es ist Ostern, denn ich durfte dich sehen.« Er wusste nämlich nicht, dass auf jenen Tag das Osterfest fiel; so weit hatte er sich von den Menschen entfernt. Der ehrwürdige Priester versicherte ihm aufs neue: »Heute ist Ostern, der Tag der Auferstehung des Herrn. Da darfst du nicht fasten; denn dazu bin ich gesandt, dass wir gemeinsam die Gaben des allmächtigen Herrn genießen.« Da priesen sie Gott und hielten Mahl.
Nach dem Essen und dem Gespräch kehrte der Priester zu seiner Kirche zurück.
Benedikt und die Hirten
(II,1,8)
Damals entdeckten ihn auch Hirten in der Höhle, wo er sich verborgen hielt. Als sie ihn mit Fellen bekleidet im Gestrüpp erblickten, meinten sie zunächst, er wäre ein wildes Tier. Bald aber erkannten sie ihn als Diener Gottes. Da ließen viele von ihrer rohen Gesinnung ab und wandten sich der Gnade eines frommen Lebens zu. Dadurch wurde sein Name in der Umgebung allen bekannt.
So kam es, dass er schon damals von vielen aufgesucht wurde. Sie brachten ihm Nahrung für den Leib und nahmen in ihrem Herzen dafür aus seinem Mund Nahrung für das Leben mit.